West und Ost
Narzißmus
und Kontrolle
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Kassel-
Wilhelmshöhe- Halle
Vorher Mainz-FFM Martyrium DB
In Rüsselsheim fällt die Oberleitung aus. Reisende zum
Flughafen werden erst im Zug über den Ausfall des Haltepunktes Flughafen informiert.
Ein Drittel der Reisenden werden vor den Kopf gestoßen.
Man sollte in D eigentlich nicht Bahn fahren. 3
Verspätungen von Alzey nach Dresden. Die Bahn sollte alle 300 km
Übernachtungsmöglichkeiten bereithalten. Gibt es eine Zusammenarbeit mit der Telekom?
200 Anrufe an Angehörige wegen Verspätung. DB entfesselt.
Um 12 nach Halle mit 8 Reisenden in vier Wägen. Ein
totes Land.
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Die Kleinstruktur zerschlagen durch den Kolchos. Jetzt
ist das Land zur Wüste geworden, durch die ein austrocknender Kapitalsturm
weht. Menschen in Massen überflüssig. Aufsteigende Wut im Hartz IV – Park. EM-
schwarz-rot-gold- Bedürfnis (Schon das Schweizer Messer schwarz-rot-gold
gesehn?).
Hierher verirrt sich kein Erdbeben, kein RTL findet
die die geringste Spur von Geilheit. (Später in DD allerdings erotic-car-wash).
Ein besonderer Humor zeigt sich in einem Schild „Privatgelände“. Wer soll hier
stören wollen?
Saubere Wände zerstörter Bahnhöfe. Kein Sprayer rafft
sich auf, hier eine Duftmarke abzusetzen. Dafür eine Ansammlung in alarmrot
gedresster Bahnarbeiter in Erwartung des Rucks, der durch D gehen soll. Kein
Erntehelfer, auch kein deutscher belebt die grünen Wüsten eines abgestorbenen
Bergbaus in Teutschenthal.
Manchmal leuchtet ein Bewegungsmelder auf.
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Erste
Unterkunft:
Wer billig reist, lernt auch den Geiz kennen. Den
eigenen nennen wir Sparsamkeit. Er zeigt sich hier in gut gepflegten Möbeln aus
dem IKEA-Nachbau der 80er, in strapazierfähigen dunklen Teppichböden mit
Abschabungen. In gedecktem Braun unter Rebhuhn. Der deutsche Gast liebt es warm
und depressiv.
In einem Vorort von Dresden moderner, offener. Aber
auch hier ein seltsam schreckliches Trockenblumen-gesteck. Das Individuum setzt
sich nun auch im Land der Glatze und der Kinderkrippe durch. Allerdings auch
der Preis.
Altkötzschenbroda schmeckt wie Keramik aus Bunzlau.
Aber man versteht auch etwas von gutem Kaffee. In Golk waren wir nicht. In
Elbschwitz aber gab es schöne röhrende Hirsche an der Wand, eine Schwalbe hoch
über dem Dachfenster, weiße Wolkenbäusche hoch über der Schwalbe, Himmelblau
hoch über den Wolken, hoch über dem Blau die Frage: Wohin?
An einer kleinen Hundeschnauze aus Plastik und Disney-
oder Möbelland kannst Du das Handtuch aufhängen. Erinnerst Du Dich? Du fandest
es blöd und Du konntest Dir kaum vorstellen, dass es Deinen Kindern gefalle.
Aber Du hast es ihnen als Eis am Stiel oder als Spielzeug besorgt. Hat er es
Dir so für Dich, den Gast, besorgt?
Und all diese Hirsche, die in Hirschkuhhinterteile und
von Alpengründen röhren, sind es höhere Phantasien als die in Dreiecke
ejakulierenden Penisse auf Zeichnungen in Männerklos und in U-Bahnhöfen, als
die protzenden Graffiti und Denkmale von hohen Herrn? Was ist mit dem Dichter,
der ein goldenes Wort ausstößt im Anblick einer sich bückenden Gärtnerin?
Auch hier singt: Matthias Reim. Es gibt ehemalige
DDR-Bürger auf Pferden und Harleys.
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Das Urinal heißt Clivia.
Warum
nicht Roy?
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Torgau
Samstagabend 20 Uhr. Totes Europa. Wo sind die
Menschen? Gehen Torgauer nicht essen? Große Häuser billig. Ein Ruck ging durch
Deutschland. Und schon schließen die Läden wieder. Im fürstlichen Torgau mit
breiten Straßen, großen Fenstern fehlt das Leben, das nicht nur von wenigen
Reichen, sondern auch von Mittelstand und Armen getragen wird.
Wie wichtig Autobahn und Fabrik sind! Wer soll die
Leistung des Handwerkers bezahlen, der die Garantie für einen stabilen
Wirtschaftsaufbau ist? -
Eine Glatze pißt an eine Hausecke vor dem prächtigen
Marktplatz.
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In einem ehemals zu einem - wie Osthofen- wilden KZ
umgewandelten Schloss lese ich die Geschichte des deutschen Widerstandskämpfers
Max Dankner, der in der Resistence mitkämpfte. Als die DDR aufgelöst war,
wurden nach diesem Bericht mit den Denkmalen der Ideologen und Parteisoldaten
auch die Gedenktafeln an Antifaschisten zerstört. Zur Zeit scheinen
hauptsächlich ehemalige SED-Kameraden das Andenken an mutige Widerständler zu
bewahren, die auch Kommunisten und Sozialdemokraten waren. Etwas mehr
Dankbarkeit für Freiheit und Solidarität in Zeiten des Grauens hätte ich von
Seiten der demokratischen Mitte schon erwartet.
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Cindy hat noch ein paar Lutscher gebracht. Heute Abend
ist Endspiel. „Ich bin für Dich nicht Mandy, sondern immer noch Mama! Wir
werden hier doch keine westdeutschen Sitten einführen!“ Zwei vor dem Bootshaus,
beim Public Viewing mit Bier. Während der Meisterschaft kann man eine gewisse
Zahl netter Leute kennen lernen, die sich nicht für Fußball interessieren.
Nicht die, die nur wegen dem Bier kommen und dem Wir, sondern die wenigen, die
wirklich nichts spüren, wenn es heißt: Anpfiff.
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Bei Hiob in
Elster treffe ich Freundlichkeit und
menschliche Preise.
Glaube es oder nicht:
Da
ist Gott.
Da
ist nichts.
Wissen
kannst Du weder das Eine noch das Andere.
Artur Schopenhauer sagt einleuchtend:
Wo
es keinen Hinweis auf etwas gibt,
was
rechtfertigt Dein Glauben an Etwas?
Er
weiß die Gegenfrage:
Gibt
es denn einen Hinweis auf nichts
in
all diesem Alles?
Weiter vorn die Spur einer leichten Elbsandale:
„Hallo, alter Ayurvede, was führt Dich hierher?“ „Na, weißt Du doch: wo Ich
ist, ist gut Ewigkeit verkoofen!“ Er lässt mich an seinem heiligen Salz kosten
-jeder darf mal lecken-: Das Beste gegen Trauer ist ein Schluck Nirvana. Die
Schmerzen weichen einer unendlichen Schalheit. Ob Du es glaubst oder nicht:
Gewiß ist der Mensch.
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Zwei Schilder am Wegrand in Dessau:
Nach
links: Unesco-Welterbe Meisterhäuser
(Bauhaus)
Nach
rechts: Job-Center SGB II (Hartz IV)
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Großer
schwarzer Raubvogel.
Der Wind trägt Dich über einsame Stücke von
wald-umrahmten Feldern. Ich bewundere die Schönheit Deines Fluges unter dem
blau stehenden Himmel, über den sausenden, Fliegen fischenden Schwalben.
Ein
Haus von zerfressenem Backstein. Mitten im prachtvollen Grün, mitten im Gold
der Felder. Die Schwalben sausen und lärmen, wie planschende Kinder im Wasser,
an hohen Wänden. Ein Fenster mit Scheiben in schwarz, die Rahmen schon morsch
noch mit blätterndem Weiß.
Aus der verlassenen Kneipe klingt es: „Sauerei, bin
noch nie arbeitslos gewesen!“
Die Spatzen ernten vom Pflaster. Es gibt Bienen und
Spinnen. Nur ab und zu brettert ein Auto über die Straße. Naturpflaster, neu
gelegt. Eine Fahrradklingel warnend das Nichts, ein Schlüsselumdrehen in einem
noch nie geöffneten Hoftor, ein Rülps tief aus Hoden und Kneipe. Und mitten im
Blau eine Antenne, ein weißer, weißer Kondensstreifen.
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In Magdeburg,
da haut eine Mutter ihr Kind.
Wir
schauen weg in moderne Zeiten.
Um
20 Uhr leert sich der Broadway.
Der
Autokorso fährt heim nun zu Muttern.
Die
Schlägerin roch fein nach Eau de luxe.
Der
Vorstand hängt sein Namensschild aus.
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Die Stadt
leert sich.
Minne
in Magdeburg
Ein Motorrad braust vor der die Schwingen
ausbreitenden Depression über den Boulevard.
Nu,
in der Datsche kenndste doch ooch ibernachdn.
Wir
aber ziehen ins Hotel Wessie mit Wasserklosett.
Auch hier fliegen die Schwalben in unglaublichen
Bögen, auch hier drückt der Sommer die Lust unters Bett.
Zweiter Schrei der Schwalben. Sonne unterm Horizont,
das letzte Auto flieht zu Mutter hinterm Deich. Im Literaturhaus aber wartet
verzweifelt ein subventionierter Caribe auf zugesagtes Publikum. Prost
Radelberger unterm frisch gekauften geblümten letzten Schrei. Er ist der letzte
der Schwalben.
Ein
Lüftchen kommt, kreischendes Klingen von Eisenrädern in Schienen. Der Brunnen
tröpfelt künstlich auf 10 Uhr. Der Kellner, endlich, darf die Rechnung
präsentiern. Wie lange, noch mal, gibt es Frühstück?
Dann
ab zu RTL und Kabel 1, je nach Bewerbung.
Frühmorgens torkelt etwas heim, das grölt wie aus den
Kanälen des Grauens „... rot unterwandert...“
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Gutes aus dem Osten: Sie haben das Reden, das miteinander
Reden nicht verlernt. Sie kommen leichter miteinander ins Gespräch und sie
bleiben dabei. Eine Chance.
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Volksstimme über Magdeburg.
Ein
"Volkshaus" erinnert irgendwie an eine tapfere Spd.
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Ein Museum mit annehmbaren Preisen.
Davor die Statue des lesenden Arbeiters, der sein Buch
in den Schoß sinken lässt. Eine Mutter geht mit ihrem Kind an einer Statue
vorbei: „Wir sagen der Dame da vorne, dass die Frau hier friert. Sie sollen ihr
etwas überziehen.“ War der real praktizierte Sozialismus nicht prüder gegen die
Erotik als die katholische Kirche bei gleichzeitig lockerem Sex-Geschnacksel?
Hat er -bei Nachdenken über Cromwell und holländische Hauskontrolle- nicht auch
etwas Evangelisches gehabt?
Andererseits gibt es hier noch Restbestände von
Interesse an menschlichen Dingen, wo unsere Museen von der blanken Langeweile
glatt gewellnesst und überschwemmt werden.
In einer professionell aufbereiteten Ausstellung über
die NS-Zeit merke ich wie mein wissenschaftliches Bedürfnis mit der Zeit durch
das Interesse am Wort der überlebenden Zeitzeugen abgelöst worden ist.
Im Hof wird Mittelalter gespielt. Man grüßt in
bestimmtem Ton mit „Gott zum Gruße“. Der Schultheiß zwingt mich freundlich
dazu, eine mittelalterliche Schürze anzuziehen. Mir ist wie vor Jahren auf
einer dänischen Insel, als mir gut wollende Arbeiter diese Würmer in den Mund
stopften, die man als Krabben bezeichnet. Hier wird ernst und belehrend
„gespielt“, im Westen narzisstisch erigiert. Mittelalter bleibt es. In der
NS-Ausstellung ein Dokument, in dem eine NS-Organisation zur Sammlung unwerter
Literatur aufruft, die nach „einem guten alten Brauch des Mittelalters“
verbrannt werden soll.
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Bäume
Wie
alt!
Noch nicht soo alt.
Aber
alt.
Sie
sagen „om“.
Die Amseln singen Regen.
Die
Sonne lässt die Wolken vor,
dunkel
und kühl.
Schmetterlinge
dunkel
über
den Blüten des Klee.
Unermüdlich
scharrt die Amselfrau,
taumelt
Kohlweißling über das Gras.
Des
Friedens Melodie aus weißen Blüten.
Von ferne erster Donner.
Wir
gehen,
schließen
das Himmelstor.
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Im Schmetterlingshaus am Elbauepark trinken Falter
süßes Leben aus Condomen.
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Auf der Heimfahrt
halten drei Pöbler mit rechten Widerwärtigkeiten den Waggon in Atem. Ein
Vietnamese verlässt -vorzeitig?- den Wagen. Die Autorität zeigt sich nicht. In
Kassel steigen wir um in einen gemischten Wochenend-Orientexpress. Die
Erleichterung, wieder im Westen zu sein. Auch das fehlt noch an Republik im
Osten.
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Blick von
der Elbe
Ich warte auf den Schrei der Schwalbe. Das Wasser
fließt in grünen Windungen zwischen Sand und grünem Kraut. Goldenes Licht
greift in goldene Felder. Keine Menschenseele haucht dem Bild unter Blau einen
Lebenslaut ein.
Die Waggontür knallt auf. Gespräche schäumen durch den
Raum. Frauen in Kopftüchern und freie Frauen, Männer aus Orient und Schicht,
dunkle, weiße, lärmende Kinder erfüllen den Raum mit glitzerndem Jetzt.
Unter der beschützenden Decke rücken zwei erglühende
Körper zueinander. Du schließt die Augen
und spürst das Verlangen. Die Ewigkeit spielt warm und feucht an den Ufern
Deiner Verletzlichkeit. Ohne den Schritt in die Hingabe wirst Du den Weg zurück
zu Dir nicht mehr finden.
Auf einem Platz an der Dorfstraße sehe ich die
Schwalben fliegen, hoch über ihren Kreisen den Bogen des Bussard. Ein verirrtes
Auto bladdert über das Naturpflaster. In einem der Hoftore dreht sich ein
Schlüssel. Die Einsamkeit von zweihundert Häusern bricht in den Frieden vom
Abendrot ein. Ich höre den blitzenden Schrei der Schwalben. Ich versinke in
Gegenwart.
Dein Wort öffnet mit einem Knall die Tür des neuen
Tages.
Klaus Wachowski
Alzey, 7.7.08