23.4.15

Reise an der Elbe Sommer 08



West und Ost
Narzißmus und Kontrolle
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Kassel- Wilhelmshöhe- Halle
Vorher Mainz-FFM Martyrium DB
In Rüsselsheim fällt die Oberleitung aus. Reisende zum Flughafen werden erst im Zug über den Ausfall des Haltepunktes Flughafen informiert. Ein Drittel der Reisenden werden vor den Kopf gestoßen.
Man sollte in D eigentlich nicht Bahn fahren. 3 Verspätungen von Alzey nach Dresden. Die Bahn sollte alle 300 km Übernachtungsmöglichkeiten bereithalten. Gibt es eine Zusammenarbeit mit der Telekom? 200 Anrufe an Angehörige wegen Verspätung. DB entfesselt.
Um 12 nach Halle mit 8 Reisenden in vier Wägen. Ein totes Land.
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Die Kleinstruktur zerschlagen durch den Kolchos. Jetzt ist das Land zur Wüste geworden, durch die ein austrocknender Kapitalsturm weht. Menschen in Massen überflüssig. Aufsteigende Wut im Hartz IV – Park. EM- schwarz-rot-gold- Bedürfnis (Schon das Schweizer Messer schwarz-rot-gold gesehn?).
Hierher verirrt sich kein Erdbeben, kein RTL findet die die geringste Spur von Geilheit. (Später in DD allerdings erotic-car-wash). Ein besonderer Humor zeigt sich in einem Schild „Privatgelände“. Wer soll hier stören wollen?
Saubere Wände zerstörter Bahnhöfe. Kein Sprayer rafft sich auf, hier eine Duftmarke abzusetzen. Dafür eine Ansammlung in alarmrot gedresster Bahnarbeiter in Erwartung des Rucks, der durch D gehen soll. Kein Erntehelfer, auch kein deutscher belebt die grünen Wüsten eines abgestorbenen Bergbaus in Teutschenthal.
Manchmal leuchtet ein Bewegungsmelder auf.
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Erste Unterkunft:
Wer billig reist, lernt auch den Geiz kennen. Den eigenen nennen wir Sparsamkeit. Er zeigt sich hier in gut gepflegten Möbeln aus dem IKEA-Nachbau der 80er, in strapazierfähigen dunklen Teppichböden mit Abschabungen. In gedecktem Braun unter Rebhuhn. Der deutsche Gast liebt es warm und depressiv.
In einem Vorort von Dresden moderner, offener. Aber auch hier ein seltsam schreckliches Trockenblumen-gesteck. Das Individuum setzt sich nun auch im Land der Glatze und der Kinderkrippe durch. Allerdings auch der Preis.
Altkötzschenbroda schmeckt wie Keramik aus Bunzlau. Aber man versteht auch etwas von gutem Kaffee. In Golk waren wir nicht. In Elbschwitz aber gab es schöne röhrende Hirsche an der Wand, eine Schwalbe hoch über dem Dachfenster, weiße Wolkenbäusche hoch über der Schwalbe, Himmelblau hoch über den Wolken, hoch über dem Blau die Frage: Wohin?
An einer kleinen Hundeschnauze aus Plastik und Disney- oder Möbelland kannst Du das Handtuch aufhängen. Erinnerst Du Dich? Du fandest es blöd und Du konntest Dir kaum vorstellen, dass es Deinen Kindern gefalle. Aber Du hast es ihnen als Eis am Stiel oder als Spielzeug besorgt. Hat er es Dir so für Dich, den Gast, besorgt?
Und all diese Hirsche, die in Hirschkuhhinterteile und von Alpengründen röhren, sind es höhere Phantasien als die in Dreiecke ejakulierenden Penisse auf Zeichnungen in Männerklos und in U-Bahnhöfen, als die protzenden Graffiti und Denkmale von hohen Herrn? Was ist mit dem Dichter, der ein goldenes Wort ausstößt im Anblick einer sich bückenden Gärtnerin?
Auch hier singt: Matthias Reim. Es gibt ehemalige DDR-Bürger auf Pferden und Harleys.
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Das Urinal heißt Clivia.
Warum nicht Roy?
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Torgau
Samstagabend 20 Uhr. Totes Europa. Wo sind die Menschen? Gehen Torgauer nicht essen? Große Häuser billig. Ein Ruck ging durch Deutschland. Und schon schließen die Läden wieder. Im fürstlichen Torgau mit breiten Straßen, großen Fenstern fehlt das Leben, das nicht nur von wenigen Reichen, sondern auch von Mittelstand und Armen getragen wird.
Wie wichtig Autobahn und Fabrik sind! Wer soll die Leistung des Handwerkers bezahlen, der die Garantie für einen stabilen Wirtschaftsaufbau ist? -
Eine Glatze pißt an eine Hausecke vor dem prächtigen Marktplatz.
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In einem ehemals zu einem - wie Osthofen- wilden KZ umgewandelten Schloss lese ich die Geschichte des deutschen Widerstandskämpfers Max Dankner, der in der Resistence mitkämpfte. Als die DDR aufgelöst war, wurden nach diesem Bericht mit den Denkmalen der Ideologen und Parteisoldaten auch die Gedenktafeln an Antifaschisten zerstört. Zur Zeit scheinen hauptsächlich ehemalige SED-Kameraden das Andenken an mutige Widerständler zu bewahren, die auch Kommunisten und Sozialdemokraten waren. Etwas mehr Dankbarkeit für Freiheit und Solidarität in Zeiten des Grauens hätte ich von Seiten der demokratischen Mitte schon erwartet.
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Cindy hat noch ein paar Lutscher gebracht. Heute Abend ist Endspiel. „Ich bin für Dich nicht Mandy, sondern immer noch Mama! Wir werden hier doch keine westdeutschen Sitten einführen!“ Zwei vor dem Bootshaus, beim Public Viewing mit Bier. Während der Meisterschaft kann man eine gewisse Zahl netter Leute kennen lernen, die sich nicht für Fußball interessieren. Nicht die, die nur wegen dem Bier kommen und dem Wir, sondern die wenigen, die wirklich nichts spüren, wenn es heißt: Anpfiff.
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Bei Hiob in Elster treffe ich Freundlichkeit und menschliche Preise.
Glaube es oder nicht:
Da ist Gott.
Da ist nichts.
Wissen kannst Du weder das Eine noch das Andere.
Artur Schopenhauer sagt einleuchtend:
Wo es keinen Hinweis auf etwas gibt,
was rechtfertigt Dein Glauben an Etwas?
Er weiß die Gegenfrage:
Gibt es denn einen Hinweis auf nichts
in all diesem Alles?
Weiter vorn die Spur einer leichten Elbsandale: „Hallo, alter Ayurvede, was führt Dich hierher?“ „Na, weißt Du doch: wo Ich ist, ist gut Ewigkeit verkoofen!“ Er lässt mich an seinem heiligen Salz kosten -jeder darf mal lecken-: Das Beste gegen Trauer ist ein Schluck Nirvana. Die Schmerzen weichen einer unendlichen Schalheit. Ob Du es glaubst oder nicht: Gewiß ist der Mensch.
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Zwei Schilder am Wegrand in Dessau:
Nach links:   Unesco-Welterbe Meisterhäuser (Bauhaus)
Nach rechts: Job-Center SGB II (Hartz IV)
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Großer schwarzer Raubvogel.
Der Wind trägt Dich über einsame Stücke von wald-umrahmten Feldern. Ich bewundere die Schönheit Deines Fluges unter dem blau stehenden Himmel, über den sausenden, Fliegen fischenden Schwalben.
Ein Haus von zerfressenem Backstein. Mitten im prachtvollen Grün, mitten im Gold der Felder. Die Schwalben sausen und lärmen, wie planschende Kinder im Wasser, an hohen Wänden. Ein Fenster mit Scheiben in schwarz, die Rahmen schon morsch noch mit blätterndem Weiß.
Aus der verlassenen Kneipe klingt es: „Sauerei, bin noch nie arbeitslos gewesen!“
Die Spatzen ernten vom Pflaster. Es gibt Bienen und Spinnen. Nur ab und zu brettert ein Auto über die Straße. Naturpflaster, neu gelegt. Eine Fahrradklingel warnend das Nichts, ein Schlüsselumdrehen in einem noch nie geöffneten Hoftor, ein Rülps tief aus Hoden und Kneipe. Und mitten im Blau eine Antenne, ein weißer, weißer Kondensstreifen.
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In Magdeburg, da haut eine Mutter ihr Kind.
Wir schauen weg in moderne Zeiten.
Um 20 Uhr leert sich der Broadway.
Der Autokorso fährt heim nun zu Muttern.
Die Schlägerin roch fein nach Eau de luxe.
Der Vorstand hängt sein Namensschild aus.
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Die Stadt leert sich.
Minne in Magdeburg
Ein Motorrad braust vor der die Schwingen ausbreitenden Depression über den Boulevard.
Nu, in der Datsche kenndste doch ooch ibernachdn.
Wir aber ziehen ins Hotel Wessie mit Wasserklosett.
Auch hier fliegen die Schwalben in unglaublichen Bögen, auch hier drückt der Sommer die Lust unters Bett.
Zweiter Schrei der Schwalben. Sonne unterm Horizont, das letzte Auto flieht zu Mutter hinterm Deich. Im Literaturhaus aber wartet verzweifelt ein subventionierter Caribe auf zugesagtes Publikum. Prost Radelberger unterm frisch gekauften geblümten letzten Schrei. Er ist der letzte der Schwalben.
Ein Lüftchen kommt, kreischendes Klingen von Eisenrädern in Schienen. Der Brunnen tröpfelt künstlich auf 10 Uhr. Der Kellner, endlich, darf die Rechnung präsentiern. Wie lange, noch mal, gibt es Frühstück?
Dann ab zu RTL und Kabel 1, je nach Bewerbung.
Frühmorgens torkelt etwas heim, das grölt wie aus den Kanälen des Grauens „... rot unterwandert...“
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Gutes aus dem Osten: Sie haben das Reden, das miteinander Reden nicht verlernt. Sie kommen leichter miteinander ins Gespräch und sie bleiben dabei. Eine Chance.
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Volksstimme über Magdeburg.
Ein "Volkshaus" erinnert irgendwie an eine tapfere Spd.
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Ein Museum mit annehmbaren Preisen.
Davor die Statue des lesenden Arbeiters, der sein Buch in den Schoß sinken lässt. Eine Mutter geht mit ihrem Kind an einer Statue vorbei: „Wir sagen der Dame da vorne, dass die Frau hier friert. Sie sollen ihr etwas überziehen.“ War der real praktizierte Sozialismus nicht prüder gegen die Erotik als die katholische Kirche bei gleichzeitig lockerem Sex-Geschnacksel? Hat er -bei Nachdenken über Cromwell und holländische Hauskontrolle- nicht auch etwas Evangelisches gehabt?
Andererseits gibt es hier noch Restbestände von Interesse an menschlichen Dingen, wo unsere Museen von der blanken Langeweile glatt gewellnesst und überschwemmt werden.
In einer professionell aufbereiteten Ausstellung über die NS-Zeit merke ich wie mein wissenschaftliches Bedürfnis mit der Zeit durch das Interesse am Wort der überlebenden Zeitzeugen abgelöst worden ist.
Im Hof wird Mittelalter gespielt. Man grüßt in bestimmtem Ton mit „Gott zum Gruße“. Der Schultheiß zwingt mich freundlich dazu, eine mittelalterliche Schürze anzuziehen. Mir ist wie vor Jahren auf einer dänischen Insel, als mir gut wollende Arbeiter diese Würmer in den Mund stopften, die man als Krabben bezeichnet. Hier wird ernst und belehrend „gespielt“, im Westen narzisstisch erigiert. Mittelalter bleibt es. In der NS-Ausstellung ein Dokument, in dem eine NS-Organisation zur Sammlung unwerter Literatur aufruft, die nach „einem guten alten Brauch des Mittelalters“ verbrannt werden soll.
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Bäume
Wie alt!
Noch nicht soo alt.
Aber alt.
Sie sagen „om“.
Die Amseln singen Regen.
Die Sonne lässt die Wolken vor,
dunkel und kühl.
Schmetterlinge dunkel
über den Blüten des Klee.
Unermüdlich scharrt die Amselfrau,
taumelt Kohlweißling über das Gras.
Des Friedens Melodie aus weißen Blüten.
Von ferne erster Donner.
Wir gehen,
schließen das Himmelstor.
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Im Schmetterlingshaus am Elbauepark trinken Falter süßes Leben aus Condomen.
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Auf der Heimfahrt halten drei Pöbler mit rechten Widerwärtigkeiten den Waggon in Atem. Ein Vietnamese verlässt -vorzeitig?- den Wagen. Die Autorität zeigt sich nicht. In Kassel steigen wir um in einen gemischten Wochenend-Orientexpress. Die Erleichterung, wieder im Westen zu sein. Auch das fehlt noch an Republik im Osten.

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Blick von der Elbe
Ich warte auf den Schrei der Schwalbe. Das Wasser fließt in grünen Windungen zwischen Sand und grünem Kraut. Goldenes Licht greift in goldene Felder. Keine Menschenseele haucht dem Bild unter Blau einen Lebenslaut ein.
Die Waggontür knallt auf. Gespräche schäumen durch den Raum. Frauen in Kopftüchern und freie Frauen, Männer aus Orient und Schicht, dunkle, weiße, lärmende Kinder erfüllen den Raum mit glitzerndem Jetzt.
Unter der beschützenden Decke rücken zwei erglühende Körper zueinander.  Du schließt die Augen und spürst das Verlangen. Die Ewigkeit spielt warm und feucht an den Ufern Deiner Verletzlichkeit. Ohne den Schritt in die Hingabe wirst Du den Weg zurück zu Dir nicht mehr finden.
Auf einem Platz an der Dorfstraße sehe ich die Schwalben fliegen, hoch über ihren Kreisen den Bogen des Bussard. Ein verirrtes Auto bladdert über das Naturpflaster. In einem der Hoftore dreht sich ein Schlüssel. Die Einsamkeit von zweihundert Häusern bricht in den Frieden vom Abendrot ein. Ich höre den blitzenden Schrei der Schwalben. Ich versinke in Gegenwart.
Dein Wort öffnet mit einem Knall die Tür des neuen Tages.
Klaus  Wachowski              Alzey, 7.7.08